Besprechung  von

Herbert Rünzi

Mit Marx über Marx hinaus.. Zur Kritik und Korrektur von Marx´ Theorie der bürgerlichen Gesellschaft

tredition, Hamburg 2019, ISBN 978-3-7482-9370-5


´Das Kapital´, gründlich analysiert und zerlegt – und von Grund auf wiederaufgebaut.


In den letzten Jahren war in den einschlägigen Veröffentlichungen viel davon die Rede, Marx neu zu lesen. Die sperrige Systematik von Marx ist dabei meist nicht nur nicht wirklich geklärt, sondern oft in ihrer vorliegenden Essenz aufgelöst worden. Das Buch „Mit Marx über Marx hinaus“, macht dagegen Ernst mit dem Anspruch, sich Marx anders zu nähern. Herbert Rünzi widmet sich Marx‘ Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, die vor allem in seinem Hauptwerk „Das Kapital“ zur Darstellung kommt, in einer Weise, die so genau und eingehend die einzelnen Gedankenschritte von Marx analysiert, dass der Begriff der bürgerlichen Gesellschaft eine bisher nicht gekannte systematische Entfaltung erfährt. Marx´ Werk selbst muss sich dabei eine entschiedene Kritik gefallen lassen – wenn auch eine konstruktive.


1. Feiertage für „Das Kapital“

Nun ist nicht nur der 200.Geburtstag von Karl Marx vorüber, sondern auch der 150.Jahrestag der Erscheinung seines bekanntesten Werkes liegt hinter uns.

Alle haben den Autor von „Das Kapital“ gelobt, als bedeutenden deutschen Denker, einige mehr als Idealisten der Freiheit (FAZ usw.), auch als Propheten (Arte), andere eher als politisch engagierten Menschen gegen Armut und Ungerechtigkeit (SPD+Linke). Die einen sind ihm dabei vielleicht nachtragend wegen des Dogmatismus – und auch wegen Stalin, der angeblich daraus resultiere –, die anderen würden gerne auch heute seinen angeblichen Idealen zu etwas Anerkennung, wenn nicht gleich zu Recht und Staat verhelfen.

Marx´ wissenschaftliches Hauptwerk „Das Kapital“ wurde dabei von der Öffentlichkeit als wichtiges, ja Jahrhundert-Werk, wenn nicht gar Welterbe gewürdigt. Dieses Theoriegebilde selbst ist dabei kaum unter die Lupe genommen worden. Die meisten dieser Beurteilungen von „Das Kapital“ bezogen sich gar nicht auf den systemischen Gehalt von „Das Kapital“ mit seinen begrifflichen Kategorien und Notwendigkeiten. Herbert Rünzi gehört zu den Wenigen, die sich auf die innere Vorgehensweise in „Das Kapital“ überhaupt einlassen und versuchen, sie nachzuvollziehen. Er will zugleich nicht nur ein (weiterer) Nacherzähler von Marx sein. Er beansprucht, mehr als andere Nach-Denker von Marx, sowohl jeden einzelnen Darstellungsschritt wie auch das Gesamtkonzept von Marx auf seine logische Stimmigkeit zu untersuchen.


2. Kritik und Re-Konstruktion von „Das Kapital“

Herbert Rünzi legt in achtzehn Kapiteln und über 532 Seiten alle wichtigen Aspekte der Marxschen Darstellung kritisch dar. Diese Ausführungen sind, gerade in ihrer Akribie im Bemühen um das Verständnis von Marx, nicht immer leicht verständlich und verlangen dem Leser etwas Ausdauer ab. Letztlich mag diese schwierige Lesbarkeit aber vor allem damit zu tun haben, dass das, was er zur marxschen Darstellung minutiös herausarbeitet, an vielen Stelle neu und ungewohnt ist, und quer zu dem steht, was man aus der bisherigen Sekundärliteratur zu Marx kennt.

Im neunzehnten Kapitel wird aus den vorhergehenden Überlegungen ein klares, aber zwiespältiges Fazit gezogen: Einerseits wird festgestellt, dass ein Großteil der Marxschen Aussagen sowohl im Hinblick auf ihre logische Notwendigkeit als auch in ihrer empirischen Richtigkeit unhaltbar ist. Mit der von Rünzi vorgenommenen Überprüfung des Marxschen Textes und den darüber aufgedeckten Unstimmigkeiten kann man nicht bei Marx und seinen überlieferten Überlegungen bleiben. Andererseits wird bei Marx aber doch auch aufgedeckt, dass in der vorliegenden Darstellung von „Das Kapital“ implizit Ansätze für einen anderen Theorieaufbau enthalten sind, gegen den nicht mehr die Kritikpunkte vorgebracht werden können, denen erstere zum Opfer fällt. Marx wird also in einer Weise überwunden, die ihn nicht als toten Hund vollständig hinter sich lässt, sondern das zum Vorschein bringt, was an Richtigem und Wichtigem in seinen Überlegungen vorhanden, aber leider etwas versteckt ist. Rünzi beansprucht in seinem Buch also tatsächlich mit Marx über Marx hinaus zu gehen.

3. Rünzis Alternative zu Marx´ Theorie der bürgerlichen Gesellschaft

Das Schwergewicht der Arbeit von Rünzi liegt auf der Marx kritisierenden Seite, eine alternative Theorie wird von ihm (noch) nicht ausgeführt, sondern nur angedeutet. Es lässt sich mit diesen Hinweisen aber die in den Marxschen Ausführungen nach Rünzi nur implizierte Theorie der bürgerlichen Gesellschaft klar herausarbeiten. Darüber wird der Gewinn gegenüber den Widersprüchlichkeiten der bei Rünzi erschöpfend aufgeschlüsselten marxschen Darstellung schlagend.

Diese alternative Fassung des marxschen Begriffs der bürgerlichen Gesellschaft, die von Rünzi favorisiert wird, ist vor allem durch eine klare Unterscheidung der theoretischen Bereiche Wesen, Schein und Erscheinungen dieser Gesellschaft gekennzeichnet. Diese logischen Kategorien und ihre Scheidung kommen zwar auch bei Marx vor, sie sind bei ihm auch von theorietragender Bedeutung, von den Rezipienten wurden sie eher nur beiläufig oder auch als methodisch zur Kenntnis genommen bzw. als überflüssige Hegelei abgetan. Die logisch aufeinander bezogenen Inhalte in soziologischer Manier nur als verschiedene theoretische „Ebenen“ zu verhandeln, ginge am angezielten Sachverhalt gerade vorbei. Beansprucht doch gerade auch Marx, dass die grundlegendere „Ebene“ mit Notwendigkeit die weiteren nach sich ziehe(n müsse), dass es also Wege der logischen Begründung zwischen den Momenten dieser Ebenen gibt, die in ihrer Argumentation geprüft werden können und müssen. Mit Ausführung von Wesen und Erscheinung des Kapitalismus ist deren inneres Verhältnis dann nicht nur zu bezeichnet, sondern zu erweisen.

Der Gehalt der bürgerlichen Gesellschaft ist von Marx nie in der von Rünzi logisch zugespitzten Weise ausgeführt worden. Und auch Theoretiker, denen die theoretischen Brüche aufgefallen waren, haben so etwas nie verfolgt.

Mit dieser anderen logischen Einordnung ändern sich sowohl der einfache Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, als auch die begründete Differenzierung seiner weiter entwickelten Momente, wie auch die jeweilige Stellung dieser Momente zueinander, in ihrer inhaltlichen Gewichtung. Allerdings: Es bleibt gerade damit bei einer Grundlegung durch den Arbeitswert in seiner Objektivität – im Gegensatz zur Neuen Marxlektüre, die ihn in seine Marktanerkennung auflöst.

Diese von Rünzi gegen Marx rekonstruierten logisch getrennten Bereiche haben jeweils ihr eigenes Prinzip.

3.1. Heißhunger nach Mehrarbeit

Als erstes und grundlegendes Moment des Wesens der bürgerlichen Gesellschaft präsentiert Rünzi den Heißhunger nach Mehrarbeit, der aber nicht als ein Zweck verstanden werden kann, den die Menschen bewusst als ihren haben und ausführen. Vielmehr sei er als Begriff der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, der von den Menschen nur unbewusst aber doch realisiert wird. Dementsprechend wird bei der Betrachtung dessen, wie sich dieser Heißhunger verwirklicht, per logischer Notwendigkeit argumentiert: Wenn es den Heißhunger nach Mehrarbeit gibt, dann muss es die Verhältnisse geben, in denen er sich realisiert. Wie diese Verhältnisse im Rahmen des bewussten menschlichen Handelns zustande kommen, ist in der Sphäre des Wesen dagegen nicht Thema. Das Füllen dieser Lücke fällt in den Bereich der aus dem Wesen nur gefolgerten tatsächlichen Erscheinungen, wo per teleologischer Genesis argumentiert wird.

3.2. Die Sphäre des Kapitals

Auf der Basis dessen, dass die sich aus dem Heißhunger nach Mehrarbeit ergebenden Verhältnisse dadurch gekennzeichnet sind, dass die Produkte als Werte hergestellt werden, die nicht nur Arbeit, sondern Mehrarbeit, also Mehrwert enthalten, ergibt sich nach Rünzi aus dem Prinzip des Wesens das Kapital. Das Kapital zeigt sich somit als der vom Wesen getrennte Schein dieses Wesens, eine von Marx so nicht konzipierte Sphäre, die zwischen dem Wesen und der unmittelbar erfahrbaren Erscheinungen vermittelt. Dabei handelt es sich um einen Wert, der den Mehrwert aus sich heraustreibt und sich in diesem Sinne als Wert selbst verwertet. (Damit zeigen sichgegen das allgemeine Verständnis von Marx weder Wert noch Verwertender Wert, also auch nicht Kapital beim nach Rünzi zu korrigierenden Marx die grundlegenden Elemente des Wesens der bürgerlichen Gesellschaft aus.)

Das von Rünzi so verstandene Kapital verwirklicht sich zunächst als Kapital im allgemeinen oder Gesamtkapital dadurch, dass der Mehrwert zum Profit wird. Dann realisiert es sich als Kapital im besonderen oder Branchenkapital dadurch, dass der Profit aufgrund der Gleichverwertung des Werts zum Durchschnittsprofit wird. Schließlich kommt es dadurch zur Verwirklichung des Kapitals im Einzelnen oder zur Herausbildung des Einzelkapitals, dass der naturbedingte Extraprofit zur Bodenrente wird. Endlich zerfällt auch der Durchschnittsprofit des Einzelkapitals in Zins und Unternehmergewinn. Ergebnis dieses Scheins ist somit, dass der gesamte Neuwert sich in vier Revenuen aufteilt, die von vier Revenuequellen abgeworfen werden bzw. ihrer Anwendung im Produktionsprozess entspringen. Bei ihnen handelt es sich um Lohnarbeiter, Boden, Geldkapital und Unternehmer, die Arbeitskraft, Extraproduktivkraft, Durchschnittsproduktivkraft bzw. Initiativkraft einsetzen und dafür Lohn, Rente, Zins bzw. Gewinn erhalten.

3.3. Das Wohl der Menschen

Das Prinzip der Erscheinungen ist nach Rünzi schließlich das Wohl (oder das Ensemble von menschlichen Bedürfnissen), das die Menschen auf Basis und mittels der vier Revenuequellen verfolgen, die das Resultat der Bewegungen des Kapitals sind. Beim Wohl handelt es sich nicht mehr um einen Begriff, sondern um einen Zweck, der alle (möglichen) tatsächlichen Zwecke übergreift, die die Menschen bewusst verfolgen und ausführen. Erst in dieser Sphäre sind die Werte zu Waren geronnen, mit Tauschwert und Gebrauchswert. Während also die Bereiche Wesen und Schein dem Willen der Menschen enthoben sind, werden deren erscheinende Formen von den Menschen willentlich getragen und vollzogen, indem sie diese Formen als Mittel für den jeweils einzelnen Menschen nehmen. Als Eigentümer an den jeweiligen Revenuequellen sind sie Subjekte der kapitalistischen Gesellschaft – auch wenn dieses Subjektsein für sich nur abstrakt sein kann. In diesem Bereich liegt daher eine Argumentation vor, die es mit dem historisch-tatsächlichen Werden der jeweiligen Handlungen zu tun hat und daher als Argumentation per teleologischer Genesis bezeichnet werden kann.

Während sich die beiden ersten Prinzipien positiv durchsetzen, kommt es beim Wohl als Allgemeinheit des menschlichen Zwecks zu einem Scheitern, selbst wenn diverse einzelne menschliche Zwecke doch erreicht werden mögen. Das liegt daran, dass die Menschen mit den ihnen im Kapitalismus gebotenen Mitteln auch immer den Begriff der bürgerlichen Gesellschaft, den Heißhunger nach Mehrarbeit verwirklichen (müssen).

Bezogen auf die Unternehmer bedeutet das z.B., dass sie gerade nicht nur ihr Wohl und sonst nichts Anderes verwirklichen, sondern die Unsicherheit der Marktverhältnisse sie dazu bringt, zu Kapitalisten zu werden, die ihren Gewinn nicht mehr konsumtiv verbrauchen, sondern um des Überlebens ihres Unternehmens willen akkumulieren. Dabei können sie jedoch keine endgültige Sicherheit finden, die ihnen erlauben würde, mit der Akkumulation aufzuhören. Stattdessen müssen sie sie ständig fortsetzen, wodurch sie den Heißhunger nach Mehrarbeit in Kraft setzen.

Diese durch Wesen, Schein und Erscheinungen der bürgerlichen Ökonomie charakterisierte Theorie bietet auf der Grundlage von nichts als den marxschen Erkenntnissen eine im Vergleich zu Marx erneuerte und klarere Architektur des Wissens über diese Gesellschaft. Diese Theorie beschreibt nach Rünzi einen großen Kreis, in dem das Ende der maßlosen Kapitalakkumulation den anfänglichen Heißhunger nach Mehrarbeit begründend erklärt.

4. Rünzis systematische Kritikpunkte an Marx´“Das Kapital“.

Dass es Sinn macht, diese bei Marx nur implizite alternative Theorie zu rekonstruieren und zu entfalten, verdeutlicht sich über die von Rünzi in aller Akribie und Ausführlichkeit aufgespürten Fehler von Marx. Diese Fehler sind in der sonstigen Marxliteratur zum Teil zwar auch als Brüche und Unstimmigkeiten kenntlich (gemacht), aber nie so minutiös verfolgt worden. Meist werden sie Marx mit Verweis auf sein (irgendwie) dialektisches Verfahren einfach nachgesehen. Auf der Grundlage der alternativen Theorie von Rünzi wird das Verständnis der bürgerlichen Gesellschaft nicht nur einfacher und klarer. Es wird damit auch nachvollziehbar, dass Marx diese Fehler macht, weil er die verschiedenen theoretischen Bereiche und die Art und Weise, wie in ihnen zu argumentieren ist, nicht genügend auseinandergehalten hat.

4.1. Wesenskategorie Wert?

Das zeigt sich für Rünzi unter anderem schon an der zentralen Kategorie des Werts. Zwar sind von manchen Theoretikern Zweifel angemeldet worden, ob die Darstellung von Marx restlos gelungen ist. Eine entschieden urteilende Kritik der logischen Missgriffe Marx´, die in einer alternative Vorgehensweise münden könnte, wurde kaum in Angriff genommen.

Der Wert stellt nach Marx eigentlich eine Kategorie des Wesens dar, wird aber von ihm deshalb als Kategorie der Erscheinungen eingeführt, weil er dem durchschnittlichen Tauschwert entsprechen soll. Auf der Basis dessen, dass der Wert als Wesenskategorie eine empirische Gegebenheit darstellt, die als solche wahrnehmbar ist, von den Alltagssubjekten aber nicht wahrgenommen wird, führt das zu Verwirrungen. Denn zum Austausch nach Maßgabe des Werts kann es dann, wenn man von Wundern absieht, nur kommen, wenn dieser ein bewusstes Kriterium ist, das gezielt angestrebt wird.

(In der psychologischen Hilfskategorie des Fetischs wird die Schwäche der marxschen Argumentation einerseits geständig, andererseits bietet sie durch die mystifizierende Analogie allein wohlwollenden Lesern einen rettenden Notbehelf.)

4.2. Verschiedene Kapitalbegriffe

Die marxsche Unklarheit bzgl. der theoretischen Bereiche wird nach Rünzi des Weiteren auch daran ersichtlich, dass Marx zwei (oder gar drei) voneinander zu unterscheidende Kapitalbegriffe hat. Kapital meint bei ihm nämlich nicht nur den sich selbst verwertenden Wert, der die wirkliche Herkunft des Mehrwerts verdeckt und daher eine Kategorie des Scheins darstellt. Kapital nennt Marx vielmehr auch das, was sich auf der Ebene des Wesens durchsetzt. Da das Prinzip des Wesens aber nicht das Kapital, sondern der Heißhunger nach Mehrarbeit ist, liegt hier eine Verwechslung zwischen Wesen und Schein vor. Dieses Streben nach maßlos viel Mehrarbeit wird dann im Übrigen auch nicht von den (einzelnen) Kapitalisten (als dritten Kapitalbegriff) absichtsvoll verwirklicht (die es im Wesen noch gar nicht, sondern erst in der Erscheinungsebene gibt), sondern bewusstlos von den Arbeitern.

4.3. Wert der Arbeitskraft und Normalarbeitstag

Die unklare Unterscheidung der theoretischen Ebenen bei Marx wird für Rünzi zudem auch an der unterschiedlichen Behandlung des Werts der Arbeitskraft und des Normalarbeitstags deutlich. Ersteren erklärt Marx überwiegend in einer Weise, die als Argumentation per logischer Geltung zu charakterisieren ist und sich damit auf der Ebene des Wesens bewegt. Im Zusammenhang mit letzterem bedient er sich fast ausschließlich der Argumentation seiner historisch tatsächlichen Entstehung, also per teleologischer Genesis, die auf der Ebene der Erscheinungen anzusiedeln ist. Das zeigt sich daran, dass er den Wert der Arbeitskraft zwar als eine logische Notwendigkeit darstellt, weil nur auf Basis der gesicherten Reproduktion der Arbeiter maßlos viel Mehrarbeit geschaffen werden kann. Für den Normalarbeitstag gilt das für Marx dagegen nicht. Obwohl er für den Erhalt der Arbeiter genauso notwendig ist wie der Wert der Arbeitskraft, stellt Marx ihn als Ergebnis des Klassenkampfs dar, in den auch noch der Staat eingreift.

4.4. Der Übergang vom Wert zum Produktionspreis

Und nicht zuletzt zeigt sich die Verwechslung der theoretischen Bereiche bei Marx nach Rünzi, wenn Marx den Übergang vom Wert zum Produktionspreis damit begründet, dass Kapital aus den Branchen auswandert, in dem es unterdurchschnittliche Profite macht, und in die Branchen einwandert, in denen überdurchschnittliche Profite zu erzielen sind. Damit bedient er sich nämlich wieder der Argumentation per teleologischer Genesis (oder historischer Tatsächlichkeit der Konkurrenz), die deswegen nicht funktioniert, weil die Aus- und Einwanderungen das gegebene System der Gebrauchswerte verletzen. Richtig dagegen wäre hier eine Argumentation per logischer Geltung, die den besagten Übergang mit dem im Kapital enthaltenen Gleichverwertungsanspruch begründet.

4.5. Abstrakt menschliche Arbeit?

Neben diesen zentralen Punkten des marxschen Argumentationsverlaufs, die nach Rünzi belegen, dass Marx die verschiedenen Ebenen seiner Theorie durcheinanderwirft, fördert Rünzi noch eine Reihe anderer drastischer Missgriffe von Marx zutage.

Aufhorchen lassen kann etwa, was Rünzi zur abstrakt menschlichen Arbeit vorbringt. Diese Kategorie wird in der neueren Marxliteratur besonders hervorgehoben und gilt geradezu als Dreh-und Angelpunkt seiner Theorie, mithin als Merkmal besonderer Kennerschaft. Nach Rünzi ist aber die Vorstellung von einer abstrakt allgemeinen Arbeit als empirisch falsch zu werten: Bezogen auf die in den Waren vergegenständlichten Arbeiten könne es keine abstrakte Gemeinsamkeit geben, die die Besonderheit ausschließt, sondern nur eine konkrete Gemeinsamkeit, die sie einschließt und als gleich gültig erklärt. Nach seinem Dafürhalten fällt Marx selbst dem Schein zum Opfer, der sich auf Basis des Verhältnisses zwischen Waren und Geld ergibt. Weil das Geld eine Entität darstellt, die neben den Waren existiert, kam er zu der verkehrten Auffassung, dass die wertbildende Arbeit etwas ist, was in gleicher Weise neben den gebrauchswertbildenden Arbeiten vorkommt. Diese Vorstellung sei nach Rünzi unlogisch und irreal. Denn innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft kann nur die produktive oder gebrauchswertbildende Arbeit das sein, was zugleich die Werte schafft, ihre Durchschnittlichkeit natürlich vorausgesetzt. Genau das stellt Marx andererseits fest, wenn er die zirkulative oder tauschwertbildende Arbeit von Anfang an als wertbildend ausschließt.

Diese verblüffende und zugleich schwer abweisbare Argumentation sollte alle Vertreter dieser Vorstellung von einer abstrakt allgemeinen Arbeit beunruhigen. Und nachdem Marxisten bisher durchweg zu dieser Kategorie standen, müssten sie sich alle zumindest zu einer Stellungnahme genötigt sehen.

5. Fazit

Herbert Rünzi beschränkt sich weder darauf, Marx (erneut) zu referieren und nur auszulegen, noch umschifft er Marx´ theoretische Klippen im formal-dialektischen Modus. Er bohrt vielmehr den Finger in alle möglichen logischen Wunden der marxschen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, allerdings um sie einer Heilung von Grund auf zuzuführen. Der Anspruch im Klappentext des Buches, dass mit ihm die Beschäftigung mit dem Marxschen Hauptwerk und die Debatte darüber auf eine ganz neue Stufe gehoben wird, mag anmaßend erscheinen. Dieser Selbsteinschätzung des Autors ist aber trotz mancher Unzulänglichkeit in Sachen Lesbarkeit zuzustimmen. Das absehbare Problem besteht nun wohl darin, ob das an Marx und seiner Erklärung der bürgerlichen Gesellschaft interessierte Publikum bereit ist, das vorliegende Werk überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, und sich bei seiner Lektüre auf ungewohnte Überlegungen und eine Debatte darüber einzulassen. Diese Bereitschaft könnte sich lohnen, obwohl oder besser: gerade weil manche der bisherigen Überzeugungen überdacht werden müssen.


(Erschienen beim Kritiknetz 27.11.2020)

https://www.kritiknetz.de/wissenschaftrezensionen/1477-das-kapital-gruendlich-analysiert-und-zerlegt-und-von-grund-auf-wiederaufgebaut